Verwaltungsangestellte im öffentlichen Dienst, Betreuerin behinderter Pflegekinder,
Mitglied der offenen AG „Leben ohne Barrieren“
Die Familie Nitzsche ist auf den ersten Blick eine ganz normale Familie.
Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass bei ihnen vieles
anders ist als in anderen Familien, denn Ilona und Rüdiger Nitzsche
kümmern sich seit 12 Jahren um Pflegekinder. Aber eigentlich begann
alles noch viel früher….
Mein Mann und ich hatten von Anfang an einen Grundgedanken. Wir
wollten unbedingt neben unseren leiblichen Kindern auch ein Kind
aufnehmen, das nicht die Möglichkeit haben würde, in der eigenen Familie
aufzuwachsen. So stellten wir nach unserem ersten Kind einen
Adoptionsantrag und bekamen die drei Tage alte Maria. Sehr schnell
merkten wir als Eltern dann, dass mit unserem kleinen Sonnenschein etwas
nicht stimmt.
Durch Maria sind Sie nach Wandlitz gekommen?
Als Autistin mit geistiger Behinderung konnte Maria keine normale
Schule besuchen. So kam sie ab der 3. Klasse in die Robinsonschule nach
Bernau, einer Schule mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt „geistige
Entwicklung“, die es in dieser Qualität bei uns in Oranienburg, wo wir
damals lebten, und ich immer noch arbeite, nicht gab. Da wir unser Kind
in kein Internat geben wollten, haben wir versucht, in ihre Nähe zu
kommen und wohnen seit Sommer 2013 in Wandlitz.
Der Umgang mit anderen Kindern, die mit einer Behinderung leben müssen,
hat in Ihnen etwas bewirkt
Unser Kind hat zwar ein großes Handicap, aber es hat uns als Familie.
Wir haben erfahren, dass das leider nicht bei allen Kindern so ist.
Deshalb haben wir uns entschlossen, noch andere Kinder in die Familie
aufzunehmen, die auch mit Beeinträchtigungen leben müssen, jedoch
alleine sind und kein intaktes Familienleben haben. Mein Mann und ich
haben uns deshalb erfolgreich an das Jugendamt gewandt. Hinzu kommt,
dass ich auch als ausgebildete Erzieherin tätig war, also nicht ganz
unerfahren bin auf pädagogischem Gebiet. Im Sommer werden es 12 Jahre,
dass wir Pflegekinder betreuen, die uns vom Jugendamt anvertraut werden.
Wo betreuen Sie die Kinder?
Wir betreuen alle Kinder bei uns zu Hause. Wir leben mit ihnen zusammen,
sie sind Teil unserer Familie. Damit können wir ihnen ein Umfeld geben,
das sie so in Einrichtungen, auch wenn diese heute schon sehr gut sind,
niemals haben würden. Und das ist doch für alle Kinder viel schöner,
vor allem, wenn sie noch so klein sind.
Wie viele Pflegekinder haben Sie bereits aufgenommen?
Bis jetzt haben wir 13 Pflegekinder betreut. Wir hatten Kinder nur für
wenige Tage, für mehrere Jahre und auch zur Dauerpflege, d.h. so lange,
bis sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbstständig leben können. Zur
Zeit leben zwei Dauerpflegekinder bei uns.
Sie haben Ihre eigenen Kinder, einen Beruf, arbeiten in der AG „LOB“ und
kümmern sich um Pflegekinder. Wie schaffen Sie das?
Die Pflegekinder sind mein Ausgleich, meine Freizeit. Ohne sie würde mir
was fehlen. Natürlich funktioniert das aber nur, wenn jemand da ist,
der sich um all die aufwändigen behördlichen und organisatorischen Dinge
kümmern kann. Das erledigt alles mein Mann, der seine Arbeit aufgegeben
hat, damit eines der Pflegekinder auf Dauer bei uns bleiben konnte. An
dieser Stelle müssen auch unbedingt die Unterstützung und Hilfe meiner
leiblichen Kinder Andrea und Lars erwähnt werden.
Welche Akzeptanz erfahren Sie von Kollegen, Nachbarn, Freunden, den
Menschen auf der Straße?
Wer einmal in die Augen der Kinder geschaut hat, die die Schwächsten der
Schwächsten in unserer Gesellschaft sind, versteht uns. Manche Menschen
verbinden Behinderung aber nur mit sichtbaren Merkmalen. Beispielsweise
unsere Maria ist eine bildhübsche junge Frau, der man ihre 100%tige
Behinderung nicht ansieht. Deswegen beschwerte sich ein Autofahrer beim
hiesigen Ordnungsamt über den Behindertenfahrdienst, der jeden Morgen
vor unserem Haus steht und ihn hin und wieder zum Warten nötigt. Andere
werfen mir eine späte Mutterschaft vor, wenn sie mich mit einem
Pflegekind auf dem Arm sehen. Wieder andere sehen nur das Pflegegeld,
aber nicht den 24-Stunden-Pflegetag. Akzeptanz fehlt aber auch in den
Gesetzen und Bestimmungen. Für seelisch/geistig erkrankte Menschen ist
kein Platz im Behindertensport. Es gibt keine Ferienbetreuung, trotz
Pflegestufe keine Möglichkeiten zur Kurzzeitpflege, also keine
Auszeitmöglichkeiten für Pflegeeltern, Parkplätze nur für
Rollstuhlfahrer und zappelnde geistig behinderte Kinder dagegen muss ich
mir unter den Arm klemmen. Barrierefrei wird immer ganz groß
geschrieben, aber zuallererst muss was gegen die Barrieren in den Köpfen
getan werden.
Was würden Sie sich persönlich gerne wünschen?
Urlaub. Das zu realisieren ist sehr schwierig. Oftmals geht das nur so
zu regeln, dass mein Mann und ich getrennt Urlaub machen. Dass wir alle
zusammen wegfahren, ist nahezu unmöglich. Deshalb träumen wir gerne von
einem Lottogewinn, von dem wir eine Freizeitanlage nur für behinderte
Kinder und deren Pflegeeltern aufbauen würden, wo wir alle Urlaub machen
könnten ohne schief angeguckt zu werden. Ich würde auch gerne mal mit
meinem Mann ein Wochenende wegfahren, um Kraft zu tanken und
auszuspannen. Das scheitert aber an der Kurzzeitpflege, die rein
rechtlich auch meinen Kindern zusteht, denn sie haben alle eine
Pflegestufe. Zu älteren Menschen kommt der Pflegedienst, zu meinen
Kinder nicht, denn ein behindertes Kind, das durch die Gegend springt,
nicht stillhalten und nicht zuhören kann, ist schwieriger in der Pflege
als ein alter Mann, der ruhig in seinem Rollstuhl sitzt. Zu uns kommt
keiner und das finde ich nicht richtig.
Was macht die AG „Leben ohne Barrieren“?
In dieser AG treffen sich Menschen aus Wandlitz, die eine Behinderung
haben, sich für ihre Rechte einsetzen und Themen wie barrierefreie
Arztpraxen und abgesenkte Bordsteine besprechen. Ich kam nun mit einer
völlig neuen Thematik dazu und erzählte von jungen Menschen, die wegen
ihrer Behinderung ausgegrenzt sind, weil sie nicht nach der Schule wie
alle anderen Fußball spielen, sich mit Freunden treffen, Shoppen oder
ins Kino gehen können. Fragen Sie mich nicht, wie lange es gedauert hat,
bis wir es geschafft haben, dass unser Pflegesohn nun endlich im
Wandlitzer Fußballverein mitspielen darf. Für Menschen mit Behinderung
wird bei uns schon viel gemacht, jedoch kommen die seelisch und geistig
behinderten Menschen immer noch zu kurz. Behinderte haben schon kaum
eine Lobby, aber die haben gar keine und davon die Kinder am
allerwenigsten. Die AG „LOB“ hat einmal alle Vorsitzenden der
Sportvereine eingeladen, sich auch mit unseren Kindern zu beschäftigen,
mit Kindern, die nicht für Wettkämpfe trainieren können, sondern einfach
nur Ball oder Tischtennis spielen wollen. Gekommen ist keiner, und das
tat weh. Über Inklusion wird viel geschrieben und gesprochen, getan
leider noch nicht so viel, ganz besonders nicht für Kinder mit geistigen
und seelischen Beeinträchtigungen.
Aber trotz aller Arbeit, aller Anstrengungen und aller bürokratischen
Hürden haben wir viel Freude mit den Kindern. Mit ihnen zusammen zu sein
ist unsere Lebensaufgabe und wir könnten uns nichts anderes vorstellen.
Frau Nitzsche, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch. Ich wünsche
Ihnen und Ihrer Familie alles, alles Gute.
Kefrin Simon
„Pflegekinder sind Kinder, die spielen, kuscheln, toben und lernen
möchten. Sie sind, wie alle Kinder, unterschiedliche Persönlichkeiten
mit Stärken, Schwächen, Vorlieben und Abneigungen. Auf Grund ihrer
bisherigen Erfahrungen sind sie meist nicht "pflegeleicht" und müssen
oft wichtige soziale und emotionale Entwicklungen nachholen. Was sie wie
alle Kinder und Jugendlichen brauchen, ist jemand, der verlässlich für
sie da ist und für sie sorgt. Was sie noch mehr als andere Kinder und
Jugendliche benötigen, ist Zuwendung, Geborgenheit und Konsequenz.“
(Stadtverwaltung Koblenz; Amt für Jugend, Familie, Senioren und
Soziales; Jugendamt; Pflegekinderdienst)
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